Lebe wohl … oder Durchsichtige Vietnamesische Rollen
Es war immer Abschied für ihn gewesen. Das Zusammensammeln der Zutaten, die Zeremonie der Zubereitung. Er saß alleine in seiner Hütte. Der Regen trommelte auf das Blechdach.
Mit beiden Händen nahm er die tellergroßen Reistaler vorsichtig aus der Verpackung und legte sie vor sich auf den gescheuerten Holztisch — ein kleiner Stapel von vielleicht zehn oder fünfzehn Stück.
Frisches thailändisches Basilikum, frischer Koriander und die behaarte Melisse verströmten beim Zerteilen einen intensiven fremden Duft. Ein paar Karotten schnitt er in ganz dünne, streichholzlange Streifchen. Mit der Salatgurke machte er es ebenso.
Als das Wasser kochte und den trüben Raum um die kleine Kerze dämpfte, übergoss er zwei Hände voll frischer Sojabohnenkeimlinge damit und ließ die Reisnudeln zwei Minuten weich und ganz durchsichtig werden.
Wie immer hatte es ihm Schwierigkeiten bereitet, die echte Oyster-Sauce zu bekommen. Die jedenfalls hatte er noch nie probiert. Ein Schälchen füllte er halb voll damit, und jetzt kam der Punkt, den man in keinem Kochbuch nachlesen konnte: das Mischungsverhältnis aus Oyster-Sauce, Essig, Wasser und Zucker. Susanne, seine frühere Frau, hatte diese Mischung immer ihm überlassen. Gelernt hatte er sie von Dao, einer alten Freundin aus Vietnam. Das besondere Geheimnis war die kleine Prise Chilli, die er immer zum Schluss
dazumengte. Fein zerrieb er die Chilli mit den Fingerspitzen und verteilte sie gleichmäßig in der goldgelben Flüssigkeit, bis man die kleinen roten Pünktchen nicht mehr sah, wie sie da im Strudel des Umrührens tanzten — eine kleine Geschmacks-explosion. Das Putenfleisch und die Krabben briet er separat in zwei Gusseisenpfannen an, das Fleisch mit Knoblauch, die Krabben mit einem kleinen Schuss Prosecco. Satésauce hatte Franziska dazu so sehr gemocht. Deshalb hatte er bei der unfreundlichen kleinen Asiatin vorhin noch schnell ein Tütchen von der rotbraunen Erdnusscreme erstanden. Schnell rührte er sie an.
Es wurde schon früh dunkel, die letzten Tage des Oktober waren gezählt. In einem Kästchen blitzten die rotgoldenen Holzschälchen, welche er jetzt mit den fertigen Zutaten einzeln befüllte. Noch eine große Schale heißes Wasser, in welche er bedächtig den ersten Reistaler tauchte, bis er weich und durchsichtig war.
Hatte er diese schöne Zeremonie, dieses meditative Essen, einmal mit Aimée und den Kindern zubereitet? Er wusste es nicht mehr, wusste nur, dass sie asiatisches Essen nie besonders hatte leiden können.
Aber die Kinder hätten am Rollen der Speisen sicher viel Freude gehabt. Wie einsam er war!
Also nahm er den ganz weichen Reistaler und legte ihn behutsam auf seinen lackierten Holzteller. Mit Stäbchen suchte er sich aus den Töpfchen die Mischung aus Zutaten zusammen, welche er gerade als passend empfand. Ein bisschen Fleisch mit Karotten, Gurken, Reisnudel, Sojasprossen und geschnittene Kräuter. Der kleine dampfende Berg türmte sich vor ihm auf. Indem er nun die Ecken des Reistalers übereinander legte, entstand eine Art Rolle. Die beiden noch losen Enden schlug er mit unendlicher Vorsicht ein. Vor ihm lag nun eine dampfende kleine Rolle, und um die Flamme der Kerze bildete sich ein Hof.
Ab jetzt war es eigentlich immer besonders schön gewesen, gemeinsam diese Röllchen in die Soßen zu tauchen und langsam ihren unglaublich aromatischen Geschmack zu erkunden, der jedes Mal anders ausfiel. Beim zweiten Anlauf nahm er statt Fleisch Krabben zu seiner Mischung hinzu und freute sich am salzig seeigen Nachgeschmack.
12 Reistaler 1 Bund Thaibasilikum
1 Bund Koriander 1 Bund Melisse
3 Karotten 1/2 Salatgurke
150 g Sojabohnenkeimlinge 50 g Reisnudeln
5 cl Oyster Sauce 1 cl heller Essig
Zucker Chilli (New Mexican)
150 g Putenfleisch 150 g Krabben
1 Knoblauchzehe Satésauce
Martin Mangold 2008 Chalet Neckargemünd
Veröffentlicht im August 2008 im „crossmedialen Erlebniskochbuch für scharfe Querdenker“ GENIE ESSEN I Chilli www.genie-essen.com