Natur

Spätsommer

Es ist halbeins
Die Turmuhr in dem kleinen Dorf schlägt gerade
Das Mittagessen war reichlich
Es ist schwül, und bis auf das Bellen eines Hofhundes ist kein Laut zu vernehmen
Alles ist still – Sogar mein Hund liegt in der Sonne und schläft
Im Bierglas steigen Bläschen auf und brechen die Sonne
im lebhaften Durcheinander
Doch alles ist still
Der leichte Wind weht Staub und Kastanienblätter
durch die Straßen
und treibt meine Gedanken weit, weit fort

Martin Mangold Heidelberg 1989

Über Berlin

Die Stadt still zu Füßen, ein Meer von Spitzen, Kreisen, Kränen, Quadern, Formen von Menschenhand
Dazwischen und darüber der Schaum der Natur, gerade drückend, unheilvoll, abgerundet durch das Rauschen von Wasser
Ein Flugzeug in weiter Ferne zieht seine Bahn, mit vielleicht zweihundert Schicksalen an Bord. Um mich her vielleicht weitere tausend Schicksale auf dem Gras Weitere 3,6 Millionen um das Gras
Du in Portugal Und ich auf dem Kreuzberg

Martin Mangold 21.7.1996 Berlin

Mein Tiergarten

Du bist die Oase der Ruhe und Besinnung in meinem zerrissenen Leben und dieser brodelnden Stadt
Lange Spaziergänge entlang deiner Wasserarme bringen Frieden
Es riecht heute nach gegerbtem Holz, der dumpfe Geruch von Pilzen streift kurz meine Nase
Die Wasseroberfläche gelb vom Pollenstaub, die Enten schlafend
Große Tropfen fallen von den alten Bäumen und graben sich mit einem „Plitsch“ den Weg ins Erdreich
Der Rhododendron lacht mich rosa an, eingehüllt in einen schimmernd grünen Mantel
Ich betrete das weiche Gras und lasse meine Füße den Weg entscheiden, so ruhig, wie ich nun geworden bin
Wieder an der Straße angekommen, stelle ich fest:
Den vermissten Frieden habe ich gefunden
In der größten Oase, mitten in Berlin

Martin Mangold 30.7.1996 Berlin

Jahreszeiten

Die ersten Blätter fallen schon
Der Tau fällt auch wieder und bedeckt morgens zart das Äußere
Aber es ist doch noch Sommer, die Sonne noch hoch am Himmel, warm und zuversichtlich
Im Inneren hat man das Gefühl, es müsste ewig so sein, eine freudige, bejahende Form des Lebens
Irgendwie versetzt einem das einen Stich, als ob man sein erstes graues Haar entdeckt hätte
Wieder ein Abschnitt geht zu ende, um wieder von neuem zu beginnen; eigentlich eine sehr hoffnungsvolle Aussicht
Wir haben immer Angst, uns von bekanntem zu trennen und neues zu erfahren, aber das ist leben, Sommer und Winter, Hitze und Kälte, ein Weg von Gegensätzen, ein ständiger Wechsel
Ihn nicht zu leben, bedeutet Tod, ewigen Winter
Ich will leben, deshalb fallt, Blätter!

Martin Mangold 8.8.1996 Berlin

Aus vergangener Zeit

Die Brückenköpfe stehen noch
Die Verbindung vor etlichen Jahren abgebrochen
Was diese Brücke damals gesehen hat?
Menschen auf der Flucht, Fuhrwerke, lebhaftes Treiben zwischen den beiden Städten

Das Kind schreit. Die fast abgefrorenen Hände, rot, ziehen eine widerspenstige Ziege. Schneeflocken verdecken fast die Sicht auf das schwere Leinengewand und die zerlumpten Schuhe

Heute starren zwei steinerne Köpfe fassungslos auf das Vorbeirauschen der Autos
Eichen haben auf ihrem Schädel Platz genommen
Die alten Schritte verhallen in endloser Stille

Martin Mangold 23.11.1997 München

Der Unfall

Sumatra, 11. September 1995, Breitengrad 0, direkt auf dem Äquator
Der buntbemalte klapprige Bus, vollgestopft mit Menschen bis zum Bersten schiebt sich durch die enge Gebirgsstraße
Meine Lebensgefährtin und ich plaudern, Sonne.
Reisfelder, Hütten aus der Steinzeit und undurchdringbarer Dschungel fliegen vorbei
Die Kurve, zu schnell, links der Abgrund, rechts die Wand, Kippen, ein Schlag, tödliche Stille.
Augen auf, Blut, überall, schweres Atmen, ich lebe noch; und meine Gefährtin? Eingequetscht zwischen den Sitzen, aber vom Felsblock, der die ganze Fensterreihe zerstört hat, verschont. Eine alte Frau hebe ich aus dem Fenster, mit eingedrückten Lungen. Sie stirbt auf der Straße. Der Fahrer, ein blutiges Bündel, tot, wie viele andere.
Diesen Ort fliehen, so schnell wie möglich.
Erst jetzt bin ich wieder dorthin gelangt.

Martin Mangold 06.12.1997 Berlin

Der Dom

Alte Steine
Graue Steine
Aufgetürmt zu einem trutzigen Schiff

Ein Zentrum im Treiben der Stadt
Besinnung, Ruhe und dumpfes Mittelalter
Macht und Vergänglichkeit

Regentropfen an den erloschenen Fensterscheiben
Eingang um die Ecke! Zur Zeit geschlossen!

Aber er wird noch in hundert Jahren stehen
Und irgendwann gehen sie wieder auf
Die Pforten

Martin Mangold 26.11.1998 Münster

Am Lago di Chiusi

Sengende Hitze in braunem Land
Zypressen stechen den blauen Himmel
Staub und steinalte Gemäuer bevölkern die Einsamkeit
Ein Silberstreifen zuerst, eine Senke tut sich auf
Hier liegt er, der stille See, eine lebendige Oase, Zuflucht vor dem Sommer

Eine Gans hat geschrieen, jetzt quakt eine Ente
Die Dunkelheit fällt schnell
Nur noch wenige Farben unterscheiden den Tag von der Nacht

Die Lichter der Taverne leuchten gelb und freundlich
Von vorne leuchtet der Mond, silbern. Weiß.
Ein toter Baum am Ufer streckt seine nackten Äste zu ihm empor
Stille überall. und eine Friedlichkeit, die einem fast das Herz zerreißen mag.

Martin Mangold 21/8/ 1999 Lago di Chiusi