Essays

Der Playboy ist der bessere Vater

Er ist das größte Geschenk meines Lebens. Neo. Nicht, weil man das dann eben so sagt, wenn man Vater ist. Er ist ein sehr spezieller 4-jähriger, blitzgescheit, redegewandt, schon etwas eitel. Aber wenn er mich in die Arme nimmt, kommt es von Herzen. Drückt mich ganz fest an sich, der kleine Mann. Was ich bei meinem Papa nie gemacht habe. Sicher, es ist eine andere Generation und ich bin ein später Papa geworden. Hatte schon einmal Kind und Ehe verloren. Doch diese unmittelbare Nähe kommt noch woanders her.

Feuervogel, Playboy, Bohemien, Künstler, Designer, Freerider, jemand, der nirgendwo reinpasst. So hat man mich schon fast mein Leben lang beschrieben, sicher nicht zu unrecht. Vielschichtigkeit, Fähigkeit zu echten Emotionen, Mut zu ehrlichen Gesprächen, der Wille, ein liebevoller Regent zu sein. Was davon hat der in unserer bundesdeutschen Wirtschaft so hoch dotierte durchschnittliche Ingenieur oder sogar Arzt, die Spezialisten, als Handwerkszeug dabei? Wie stimmt jemand, der in Exceltabellen oder Abrechnungstools denkt, ein vor Neugierde sprühendes junges Leben auf die unfassbare, wundervolle, bunte, berauschende Bandbreite des Lebens ein? Und legt womöglich noch moralisch passend zurechtgeschneiderte Zügel an, damit der Nachwuchs doch bloß nicht auf die schiefe Bahn gerät, wie man ja so oft liest. Was für ein jämmerlicher Start, was für eine miserable Ausgangsbasis, wenn es einem als Kind so geht. Und hierbei meine ich keinesfalls Geld oder Bildung. Losgehen tut es damit, dass ich mein Kind nicht als etwas lebloses, ein Gefäß betrachte, das befüllt werden soll. In einem kleinen Menschen ist unglaublich viel angelegt, wovon nur die Schutzschicht des Nichtkennens entfernt werden muss.

Mit „Man macht das nicht“ – Aussagen erziehen wir gesellschaftliche Krüppel. Der Satz „ Ich mache es so, weil ich es schön finde“ bringt junge Menschen in eine Welt, die von Anfang an Stärken sucht und nicht ihre Beteiligten unerklärt blöde an die Wand stellt. Ist es eine Schande, jung und unerfahren zu sein? Oder ist es eine Schande, erwachsen und immer noch unerfahren zu sein? Junge Menschen wollen ihre Stärken finden und leben. Alleine, um zu beweisen, dass alt eingefahrene Erziehungsmuster auch überarbeitet werden können, habe ich meinem Neo schon mit 1,5 Jahren gezeigt, wie er sicher mit scharfen Messern (und sie sind wirklich scharf, denn ich koche gerne) wie auch mit Streichhölzern und Feuerzeugen umgehen soll. Jetzt, mit 4,5 muss ich bei ihm nichts mehr beaufsichtigen. Er kann das alleine und sehr sicher. Einmal hat er sich bisher geschnitten. O-Ton: „Papa, hast Du ein Kinderpflaster für mich? Ich hab mich geschnitten“. Fazit: Selbstbewusstsein ausgebildet, weil er es verstanden hat. Und Papa hat viel weniger Stress, weil er auf Neos Fähigkeiten vertraut.

Ein weiteres Thema: Ich besitze eine über viele Jahre gewachsene, extra auf Jazz und Klassik optimierte, größtenteils selbstgebaute, unglaublich sauber und voluminös klingende Stereoanlage. Sobald unser kleiner krabbeln konnte, haben ihn schon die CDs, LPs, MCs und vor allem die Kalotten der vielen verschiedenen Lautsprecher interessiert. Ich habe ihm dann einen ganzen Nachmittag lang alles Wichtige gezeigt: Wo wird umgeschaltet, wie legt man CDs ein, wo schließt Du Kopfhörer an oder wie hälst Du die CDs. Der Erfolg war beeindruckend. Er war stolz, ernst genommen worden zu sein und an die große Anlage zu dürfen. Das Einordnen nach Alphabet beherrschte er noch nicht, aber ansonsten vertraute ich ihm den Umgang mit dem Musiksystem mit Ausnahme des Plattenspielers an, denn er ging mit allem höchst sorgsam um… Riet ihm nur immer wieder zur Vorsicht bei dem großen Lautstärkeregler. Eines Tages, wir waren gerade zu Hause angekommen, er vom Kindergarten, ich von BMW, ließ es plötzlich einen unbeschreiblich lauten Schlag, als ob eine Bombe im Haus explodieren würde. Die Mauern bebten. Neo kam schrill weinend aus dem Wohnzimmer gerannt und ich sprang schreiend in dasselbe, um den Strom abzustellen. – Stille – Der kleine wollte Beethovens 5., 1. Satz hören, was er sehr liebt. Ich hatte aber zuvor Kassette gehört. So drehte er das Volume auf Max. und schaltete danach die Source um…

Die Anlage hat es überlebt, wir beide auch, aber jetzt sagt Neo immer „Papa, an die Anlage darf nur ich, da können meine Freunde nicht mit umgehen“  Schnell zur Selbstständigkeit führen ist eine Sache, die ein nicht in rechten Winkeln denkender Mann anscheinend gut kann, weil er offen bleibt. Und zusätzlich kann er auch noch mit den Genüssen und den schönen Dingen bekannt machen. Neo hat klar kommuniziert, dass ihm Champagner und Sekt nicht konvenieren. Er durfte mit 4 Jahren nur deshalb eine Zungenspitze probieren, weil die Antwort klar war… Er hat für sich Ginger Ale für besondere Anlässe entdeckt. Zu denen zieht er auch eine Fliege an, die Krawatten von Papa gefallen ihm noch nicht. Und vor allem beim Geburtstagskuchen backen ist er phänomenal. Meine Frau und ich stellen nur alles hin – den Rest macht er. Auch ein Resultat des Machen Lassens und der Freude aus dem Entdecken der tatsächlichen Selbstwirksamkeit.

Meine Frau und ich arbeiten beide Vollzeit in der Autoindustrie, aber mit meinem und unserem Konzept sind wir eine glückliche Familie, in der der Spross ohne jeden Stress zu einer Art Vorzeigekind geworden ist. Er ist liebevoll, ausgeglichen, zuweilen dickköpfig, aber für einen Jungen von 4 Jahren der Inbegriff dessen, was ich mir immer für einen Sohn gewünscht habe.

Es geht also doch, Kinder gut zu erziehen, ohne, dass man möglichst viel an Ihnen herum zieht. Sondern man bringt das zum Klingen, was in Ihnen steckt. Ein Schlüssel hierzu war für mich die Überzeugung, dass ein Kind ein Mensch wie Du und ich ist, eben nur etwas kleiner, aber mit seinen ganz eigenen Stärken und Schwächen. Er lernt Sachen von mir und ich lerne Sachen von ihm. Und heute bin ich im Kopf 10 Jahre jünger, als ich es vor 5 Jahren war. Und er einiges älter als der durchschnittliche 4-jährige.

Ich bin heute mit meinem geliebten Sohn Neo (Alexander Victor Nepomuk Mangold) und meiner geliebten Ehefrau Dorit Mangold mit allen Sinnen hellwach an einen Punkt der Zufriedenheit und des Einklangs gekommen, den ich noch vor kurzer Zeit nicht für möglich gehalten hätte.

Ob ich noch ein echter Playboy bin, ist mittlerweile schwer zu sagen. Aber ich bin immer noch ein impulsiver Schöngeist und ein Bewunderer der schönen Dinge und des schönen Geschlechts. Mit Excel-Tabellen, der eindimensionalen Sicht der Welt, habe ich es noch nie sonderlich gehabt. Meine Welt schäumt und blüht. Und Neo freut das.

16/1/16 Martin Mangold, München – Gröbenzell

Momentaufnahme

Haben Sie sich eigentlich schon einmal Gedanken gemacht, was so ein Leben überhaupt für Sie bedeutet? Sie laufen auf der Straße entlang und ein kleines Kind mit braunem Lockenkopf spielt gerade mit Herbstlaub. Beim Betreten einer Peepshow steigt Ihnen langsam das Adrenalin ins Blut. Auf einer Demonstration für unterdrückte Frauen prügeln Typen in die Menge. Tagtäglich Situationen, wie Sie überspitzter und intensiver ein Film oder ein Theaterstück niemals formulieren würde. Nur sind diese Momente ein Teil des Alltages, kurz, des Lebens.
Natürlich, Sie gehen in ein Kino, um sich einmal wirklich intensiven Gefühlen auszusetzen, anstatt
auf die Straße zu gehen und sich einmal richtig mit dem Leben treiben zu lassen.

Angst



Vor Neuem, ob schön oder schmerzvoll, der Möglichkeit, mehr über das zu erfahren, was in Ihnen und anderen brodelt. Unentdeckt, hinterlistig und gefährlich. Lauernd auf den richtigen Moment, um eine
unerträgliche Situation zu provozieren.
Ich zum Beispiel sitze oft abends lange da, höre Musik, grüble über eine Sache nach, lese oder tue sonst irgend- etwas Löbliches. Anstatt sich in Bewegung zu setzen und Erfahrungen zu sammeln, in das kalte Wasser zu springen. Sicher; ich habe schon sehr viele schmerzliche Erfahrungen gemacht, viel gelebt und eine ganze Menge falsch gemacht. Das macht irgendwann schüchtern.
Ein Spiel kann unterschiedliche Regeln zu eigen haben. Ein Würfel, zwei Würfel oder zehn Versuche. Sie und ich, wir haben nur einen einzigen. Frage: Jeden Abend ins Kino gehen oder mal mit Herbstlaub spielen? Mal eine Busreise nach Prag oder doch eher Jogging am Highway? Wir haben jede Freiheit der Welt. Nur erst mal finden.

Ich schlage mich mit Gedanken herum, ob ich mich noch einmal binden soll, und wie fest. Eine Familie möchte ich, ich bin kinderlieb. Nicht, dass ich nur Lust auf ein trautes Heim hätte, sondern einen kleinen Sinn, zu leben. Eine Lebensgefährtin, aber eine, die mich zur Abwechslung einmal nicht als Ausstellungsstück benutzt, mich schätzt, weil ich so geschickte Hände
Habe oder in der Öffentlichkeit gewisses Aufsehen errege. Wir suchen doch alle jemanden, der uns ohne wenn’s und abers akzeptiert.

Liebe

 

Werden wir sie so finden, ist sie nicht der Spiegel unseres eigenen Geistes, der Spiegel unserer Person? Die stärkste Form der Liebe ist die Liebe zu sich selbst, denn alleine Sie birgt die Kraft, immer zu überleben. Und ich habe bis dato überlebt. Wie war das? Nur wer die Angst kennt und zu überwinden weiß, ist wirklich mutig. Ich übersetze: Nur, wer erkannt hat, dass er immer alleine ist, kann in Gemeinschaft leben.
Wir tappen Tage und Nächte lang umher, mit dem einzigen Vorsatz (natürlich unterbewusst), ein wenig Wärme und Anerkennung zu finden. Mein Gott, das ist ja auch das Erfüllendste, was einem widerfahren kann, wieso deshalb schämen? Sich nur endlich einmal darüber klar werden. Wenn es mit dem Freund gerade nicht klappt, sucht man sich eben woanders das besagte Verständnis. Auf welche Weise, ist natürlich typenabhängig. Ich habe immer den großen Fehler
gemacht, Sex mit Wärme oder Zuneigung zu
verwechseln. Klar, die momentane Bestätigung ist dann da, und die Befriedigung meistens auch, aber am nächsten Tag? In der nächsten Woche? Die bittere Einsicht, dass es mal wieder normaler Vollzug war. Kein bisschen mehr.
Die Blätter fallen schon seit Wochen, leise, und flüstern mir ins Ohr: “Wieder ein Jahr um“ und “Es geht wieder weiter, neuer Abschnitt“.
Das ist Ihnen bestimmt auch schon aufgefallen, wie sich dann das Lebensgefühl ändert. Alles wird leiser und aggressives Leben weicht etwas der Besinnlichkeit. Schon wieder zu viel zu schnell gemacht, aber jetzt kommt die Zeit des Nachdenkens, Aktivität weicht depressivem Rumgehänge.
Das kleine Kind spielt immer noch mit Laub, die Haare schimmern im Wind.

Meine Gedanken heben ab wie in einer Concorde und ich laufe entlang der Boulevards von Paris, durchflutet von spätsommerlichem Licht. Es riecht nach Cafe und frischen Crepes. Leichtigkeit. Sehnsucht. Sich schnell mal in eine andere Welt flüchten, die überschaubar und deren Spielregeln bekannt sind. Doch ins Kino gehen?
Nein. Das Fliegen genießen, runterkommen tut man schnell genug. Allerdings, immer oben bleiben ist auch Mist, denn dann gibt’s irgendwann die Bruchlandung. Ach Paris, ich vermisse Dich (Schmalz, trief). Mein Kopf ist von Gedanken befallen wie ein alter Roquefort vom Schimmel. Geliebte Stadt, Du bist der Wein dazu. Deine Zeit läuft viel langsamer als meine. Auch, wenn die Autos wie bescheuert um den Place de la Concorde rasen.
Der Fluss fließt durch Dich seit über 2000 Jahren hindurch. Vielleicht entdecke ich in mir irgendwann auch einen solchen, habe dann aber nur noch ein paar Jährchen, um es zu genießen.
Verdammt noch mal, wir verarschen uns am laufenden Band. Wenn einer so behämmert ist, sich dauernd darüber Gedanken zu machen, dass es sowieso in 40 Jahren vorbei ist, kann er sich ja gleich begraben.
Wir sollten uns ganz einfach klar darüber sein, dass es in maximal 80 Jahren vorbei ist und daraus die Kraft schöpfen, zu leben, was wir sind und wollen.

Sie haben schon oft mit dem Gedanken gespielt, etwas wirklich Großes zu tun, dadurch unsterblich zu werden?
Noch in tausend Jahren wird man über Sie reden!
Klar habe ich schon daran gedacht. Verherrlichung des eigenen Seins, endlich doch ein Sinn. Nicht auf dem Friedhof von Gütersloh verschimmeln, sondern im Glorienschein der Unendlichkeit dahingehen.
Als Randbemerkung: Wirklichen Ruhm haben die meisten Menschen erst nach Ihrem Tod erfahren. Doch schon so früh.
Kleiner Selbstbetrug, für das jetzt und hier vollkommen untauglich. Alle leben immer in der Zukunft. Das kotzt doch langsam an.

Wie sehr sehnte ich mich gerade jetzt nach einer Umarmung von der Frau, die ich liebe. Aber im nächsten Moment denke ich schon wieder daran, dass ich ja etwas schreiben wollte, um wenigstens meine Gedanken ein wenig unsterblich zu machen. Zurück in der Gegenwart muss ich nebenbei bemerken, dass besagte Frau mich leider nicht liebt.
Positiv ausgedrückt, so bleibt man wenigstens flexibel. Mit ein paar Yogakursen und Brombeertee kriege ich das schon irgendwie auf die Reihe.
Alles vergänglich, oder gar nicht existent, nur in der
Vorstellung. Was bleibt, ist nicht das Christentum, sondern der Glaube, der Geschmack von Wein und Käse, auch wenn beides de facto schon total verschimmelt ist.
Man sollte sich niemals zu fest an existenten Dingen festklammern, denn vielleicht sind sie ja morgen schon weg. Und dann ist der Jammer groß.

Was bleibt, ist für mich die Einsicht, dass es jeden Tag aufs Neue ein bisschen weh tut. Deshalb raus auf die Straße, Filme kann ich mir auch noch anschauen, wenn ich die Radieschen von unten sehe.
Keine Lügen mehr. Aggressives Leben, vor dem Tod.

Martin Mangold 16/11/1996 Berlin